Sorge für dich, gerade auch in Krisen
Eine ältere Freundin erzählte mir vor einiger Zeit von den unerwarteten Schwierigkeiten in ihrer Ehe, nachdem ihr Mann pensioniert worden war. „Plötzlich war auch er den ganzen Tag zu Hause. Ich stehe auf und brauche noch meine Ruhe. Er sitzt schon am Küchentisch und will reden. Ich gehe ins Bad. Er will ausgerechnet in diesem Moment auch. Ich schalte das Radio an, wie ich es morgens immer mache. Er mag meine Musik nicht.” Ähnlich geht es vielen schon nach wenigen Wochen im Home Office: Wer sind eigentlich all diese Leute in meiner Wohnung und warum tun sie alles, um mir auch noch den letzten Nerv zu rauben?
Da war man jahrelang absolut überzeugt: „Wie schön wäre es, wenn wir nur mehr Zeit füreinander hätten. Oder, Schatz?” Ebenso: „Mein Job wäre so viel leichter, wenn ich mehr von zu Hause aus arbeiten könnte!” Oder: „Keine Ahnung, warum die Lehrer sich immer so anstellen! Unsere Kinder sind absolut pflegeleicht. Man muss sie nur zu nehmen wissen. Am liebsten würde ich sie selbst unterrichten, wenn das ginge.” Nun hat der Coronavirus all diese Träume erfüllt, und wir stellen fest: Gar nicht so einfach mit unseren Liebsten! Im kuscheligen Modebegriff „Quality Time” verbirgt sich nicht umsonst auch das unschöne Wörtchen „Qual”.
Gemeinsam genervt in dreieinhalb Zimmern
Wenn man den ganzen Tag in dreieinhalb Zimmern ohne Wohnküche aufeinander hockt, nervt auch der perfekteste Partner manchmal allein schon durch seine Anwesenheit. Hat er zum Beispiel immer schon so komisch geschnauft, wenn er konzentriert in seinen Computer tippt? Die Kinder sind lieb, aber erstaunlich quengelig. Mit einem Abo von Disney+ konnte man sich ein paar Tage freikaufen, aber das kostet wieder. An der beruflichen Front nervt auch einiges: Der Chef schickt eine überzogene Idee nach der anderen ins Home Office. Dafür sind gewisse Kollegen untergetaucht. Aktuell ist auch der Stress ansteckend!
„Die meisten Probleme haben wir doch mit Menschen, denen wir gar nicht entkommen können und, ehrlicherweise, oft auch nicht wollen: Partner, Verwandte, Freunde, Chefs, Kollegen und Nachbarn”, steht gleich am Anfang meines Buches „Ich mach da nicht mehr mit”. „Wir können nicht ohne sie, aber leider eben oft auch nicht mit ihnen. Das nervige Ergebnis: keine Chance auf Flucht!” Bei den wenigstens stecken Absicht und böser Wille dahinter. Das wollen wir zumindest einmal unterstellen. Aber macht das im Ergebnis überhaupt einen Unterschied? Abgrenzen können muss man sich in beiden Fällen.
Schon Kleinigkeiten machen einen Unterschied
Deshalb: Sorge für dich, gerade auch in Krisen! Das gilt in Zeiten des Coronavirus ebenso wie bei alltäglichen Herausforderungen: Sonderprojekten im Job, einem pflegebedürftigen Elternteil, einer anstrengenden Pendelbeziehung. Also immer dann, wenn deine eigenen Kräfte bereits mehr als normal beansprucht werden. Oft machen schon Kleinigkeiten einen Unterschied: „Das Schlafzimmer gehört jetzt mal eine Stunde mir. Ich ruhe mich aus und will nicht gestört werden.” – „Ich gehe eine halbe Stunde spazieren – allein.” – „Tut mir leid, da kann ich dir auch nicht helfen. Wenn du es nicht allein schaffst, geht es eben nicht.”
Du musst nicht ständig für alle da sein. Auch andere können etwas tun und sind bereit dazu. In diesen Tagen hängen überall freundliche Angebote von Menschen, anderen zu helfen. Im Park, entlang der Straße, an Geschäften. An unserer Haustür ein Zettel, im Haus ein weiterer vom Vermieter. Von der Kirchengemeinde rief eine Dame an, wie es uns gehe und ob wir Unterstützung bräuchten. Menschen sind hilfsbereit. Nicht wenige geben mehr, als sie selbst haben. Lass dir also nicht einreden, es gäbe eine Welle des Egoismus, oder lass dich moralisch erpressen. Hilf selbst, wenn du kannst – aber freiwillig und entsprechend deiner eigenen Ressourcen. Ein Ja zu dir beginnt, wenn nötig, mit einem Nein zu anderen.
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