Du hast gar keine Schwächen!

Wenn jemand beginnt, seine Schwächen aufzulisten, geht es meist nicht um liebenswerte Kleinigkeiten, über die jeder nur zu gern hinwegsieht. Keine süßen Geständnisse wie: „Ich nasche, wenn ich ehrlich bin, ein bisschen zu viel, schreibe manchmal Kommentare auf Facebook, die ich später bereue, und hänge abends ewig bei Netflix fest, obwohl ich besser ins Bett gehen sollte.” Die meisten offenbarten Schwächen klingen so, als wäre mit einem etwas grundsätzlich nicht in Ordnung. „Ich kann nicht für mich einstehen”, „Ich bin emotional zu bedürftig”, „Ich lasse mich ständig zu etwas überreden, was ich gar nicht will!”

Beurteilst du dich selbst auch danach, welche Stärken und Schwächen du hast? Diese Methode ist sehr verbreitet, zieht dich aber runter: Sie gibt dir immer das Gefühl, dass du gewisse Mängel hast, die sich auch bei allem Bemühen nicht beseitigen lassen. Besser ist, dir folgendes vorzustellen: Du hast dein eigenes Profil, und in manchen Dingen bist du besonders gut. Alles andere sind keine „Schwächen”, sondern Potential: Hier könntest du, wenn du willst, etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit investieren. Du musst aber nicht. Denn schon so, wie du jetzt bist, bist du ziemlich weit gekommen im Leben, oder etwa nicht?

Je nach Situation ist fast alles eine Stärke

Fast alles, was wir als Stärke oder Schwäche bewerten, hängt von der Situation ab. Du hast beispielsweise vielleicht das Gefühl, dass du dich beruflich oder privat manchmal nicht so durchsetzt, wie du es gern würdest. In solchen Situationen ärgert dich deine „Schwäche”. Gleichzeitig erkennst du dadurch: Du bist besonders rücksichtsvoll, aufmerksam und zudem reflektiert. So gesehen, sind diese Eigenschaften auf einmal Stärken, die in bestimmten Situationen für dich hilfreich sein. Etwa, wenn es auf Taktgefühl und Einfühlungsvermögen ankommt – das braucht man im Kundengespräch ebenso wie beim Dating oder Beziehungsgespräch.

„Es ist ein beliebtes Schlagwort unserer Zeit, dass man sich ,neu erfinden’ solle. Das ist bis zu einem gewissen Grad möglich, gleichzeitig bleibt deine Herkunft deine Basis”, heißt es in meinem Buch „Ich mach da nicht mehr mit” (Seite 171). Du musst dich nicht ständig kritisch hinterfragen, dich wegen irgendwelcher angeblicher Schwächen selbst anklagen. Deine persönlichen Eigenheiten darfst du annehmen: „Akzeptiere sie nicht nur notgedrungen, sondern sei tatsächlich stolz auf deinen Lebensweg. Du ersparst dir damit nicht nur unnötige Selbstzweifel, sondern auch selbst verursachte Hürden im Berufs- und Privatleben.”

Du bist schon gut so, wie du bist

Wenn du deine Eigenheiten neutral annimmst, anstatt sie in „gut” und „schlecht” zu sortieren, hat das einen besonderen Vorteil. Du versuchst nicht mehr, ein anderer Mensch zu werden. Das funktioniert sowieso nicht. Sondern du wirst sensibler dafür, wer zu dir passt und in welchen Umgebungen du dich wohl fühlst und auflebst. Anstatt gegen dich zu kämpfen, um endlich diese Schwächen loszuwerden, pflegst du lieber deine Stärken und bewegst dich in ein Umfeld, in dem sie geschätzt werden. Im obigen Beispiel wäre das eine Partnerschaft und ein Arbeitgeber, der ebenso auch auf dich achtet, wo du nicht immer für dich kämpfen musst.

Wie passt das nun damit zusammen, dass jeder irgendwie „besser werden” will? Dagegen ist überhaupt nichts zu sagen, im Gegenteil. Wenn du eine Fremdsprache lernst, eine Weiterbildung beginnst, einen Sport regelmäßig ausübst, gesünder isst, eignest du dir sinnvolle Fähigkeiten und Gewohnheiten an. Sie haben aber nichts mit deinem persönliche Wert zu tun. Du bist schon jetzt – auch, wenn du noch viele Ideen und Pläne hast – gut, ausgewogen und komplett!  Und wenn du wieder einmal nach deinen „Schwächen” gefragt wirst, denkst du dir einfach etwas Harmloses aus. Alles andere geht niemanden etwas an!